Leseprobe
Am Kai der Schwarzen Zungen
Gegen Mittag gelangte Nidel zum
Hafen. Für gewöhnlich war es hier um diese Zeit nicht sehr belebt,
weil die Hafenarbeiter in den umliegenden Schänken ihre Mittagspause
hielten. Aber heute lagen einige große Galeeren aus Ufarnimar an
den Kais und zogen das Interesse der Händler auf sich. Lange Kolonnen
von Sklaven und Schauerleuten schleppten Kisten und Ballen an Land, wo
die Aufkäufer schon warteten, um sie zu öffnen und zu begutachten.
Es wurden auch Käfige mit fremdartigen Tieren ausgeladen, die mit
ihrem Schreien und Brüllen die Passanten in dichten, gaffenden Menschentrauben
anlockten.
Der Kai der Schwarzen Zungen dagegen, der sich am östlichen Ende
des Hafens befand, schien gänzlich ausgestorben. Leer baumelten die
Galgenschlingen im Wind, und auch der unverwechselbare Geruch brennender
Scheiterhaufen fehlte.
Offenbar hatten die Henker erst vor kurzem ihre Gerätschaften aufgeräumt
und gesäubert. Die Beile, die an den Richtblöcken lehnten, glänzten
blank in der Sonne und die Körbe zum Auffangen der Köpfe waren
säuberlich ineinander gestapelt. Neben jedem Scheiterhaufen lag ein
großer Vorrat an aufgeschichteten Reisigwellen.
Nur ganz am Ende des Kais bemerkte Nidel eine kleine Gruppe von Schaulustigen,
die aber schon dabei war, sich wieder zu verlaufen. Als er weiterging,
kam ihm eine alte Frau mit zwei heulenden Kleinkindern an der Hand entgegen.
„Du brauchst gar nicht erst hin zu gehen“, rief sie ihm zu.
„Heute hängen sie ihn nicht mehr. Hätte sowieso nicht
viel hergegeben, die halbe Portion.“ Und heruntergebeugt zu ihren
plärrenden Bälgern: „Ist ja gut. Wir kommen morgen wieder
her. Dann hängen sie ihn ganz bestimmt.“
Nidel ging neugierig weiter. Wenn jemand nicht gehängt werden sollte,
konnte man ihn vielleicht überzeugen, etwas Vernünftigeres mit
seinem Tag anzufangen. Als er den Richtplatz erreichte, standen dort nur
noch drei Männer beieinander, die heftig miteinander stritten. Ihre
scharlachfarbenen, lackledernen Westen wiesen sie als Henkersknechte der
Stadt Valauna aus, während ihre Nasengewichte aus gehärteter
Nussbutter darauf hin deuteten, dass sie von den Nerischen Inseln stammten,
von wo alle großen Städte ihre Henker rekrutierten.
„…ich bleib’ dabei: Schlagen wir ihm einfach den Kopf
ab und machen Feierabend für heute“, rief ein fuchsgesichtiger
Bursche mit fettigen, roten Haaren.
„Nichts da“, rief einer, mit einer sackähnlichen Mütze
und silbern blickenden Augen. „Wenn es nicht so geht wie befohlen,
müssen wir ihn zurück in den Turm bringen und auf neue Anweisungen
warten.“
„Ach ja? Das wäre das dritte Mal. Hast du dir schon einmal
überlegt, was man da von uns halten wird? Wir werden als die unfähigsten
Henker aller zwölf Äonen in die Geschichte eingehen.“
„Die Vorschriften sind eindeutig: Wenn der Verurteilte nach dem
dritten Mal ...“
Nidel trat heran und räusperte sich.
„Darf man fragen, über welche Art von Schwierigkeit ihr euch
so erhitzt?“
Der Fuchsgesichtige fuhr herum und zog den Kopf zwischen die Schultern.
„Henkergeschäfte - die gehen dich nichts an. Verschwinde.“
„Natürlich nicht, aber ich habe den Eindruck, dass ihr ein
Problem zu lösen habt. Ich bin ein weitgereister Mann, der viel gesehen
hat und könnte euch vielleicht einen Rat geben.“
„Besser, du reist noch ein Stück weiter!“
Der mit dem Silberblick fasste den Fuchsgesichtigen am Ärmel.
„Warum eigentlich nicht? Vielleicht hat er so was schon mal gesehen
und weiß, wie man es umbringt.“
„Was gesehen?“, fragte Nidel.
Der mit dem Silberblick trat zur Seite, so dass Nidel einen Blick auf
den Richtblock werfen konnte.
„Da, schau ...“
Nidel trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Kreatur,
die dort saß, glich zwar entfernt einem rundlichen, kleinen Mann,
aber darin erschöpfte sich ihre Menschenähnlichkeit.
Sie besaß eine wässrig-blaue, durchscheinende Haut, die so
feucht glänzte, als ob sie ständig von einer dünnen Schicht
Wasser umspült würde. Auf einem kurzen Hals saß ein klobiger
Kopf, dessen Stirn kaum höher als eine Fingerbreite war. Darunter
zwei große, runde Augen, dunkelblau wie Glasmurmeln aus Kobaltglas,
zwischen denen eine faustgroße, knollige Nase saß. Anstelle
des Kopfhaars wucherte ein Nest von fingerdicken Auswüchsen, die
an grünliche Riffwürmer erinnerten.
Am befremdendsten aber war seine Kleidung. Auf den ersten Blick schien
es eine Art langes Leibchen aus weißer, flauschiger Wolle zu sein.
Beim zweiten Hinsehen jedoch erwies es sich als ein dichtes Nebelwölkchen,
das den Rumpf umgab und jeder seiner Bewegungen folgte. Nur der Kopf und
die Gliedmaßen ragten daraus hervor. Nidel leckte sich zufrieden
die Lippen. Das musste eine Chaoskreatur sein. Besser konnte er es gar
nicht treffen.
Das Geschöpf hockte, die Hände auf die Knie gestemmt, auf dem
Richtblock und verfolgte aufmerksam den Disput der Henkersknechte.
„Was ist das?“, fragte Nidel, der so etwas noch nie gesehen
hatte.
„Irgendein Chaosbastard.“
„Und warum soll er hingerichtet werden?“
„Wegen Widernatürlichkeit. So was haben wir hier fast jeden
Tag. Wenn man das Gesindel nicht auslichtet, gewöhnen sich die Leute
zu sehr an die Präsenz des Chaos und arrangieren sich damit.“
Der Henkersknecht wandte sich halb zu dem Delinquenten um. „Der
hier macht allerdings Schwierigkeiten.“
„Schwierigkeiten? Welcher Art?“
„Nun, letzte Woche sollten wir ihn verbrennen, aber der Kerl ist
so kalt, dass die Flammen erloschen, sobald sie ihn erreichten.“
„Das scheint mir wahrhaftig widernatürlich“, bestätigte
Nidel.
„Und die Woche davor hieß es: Ertränkt ihn“, berichtete
der dritte Henker, ein aufgeschwemmter Kerl mit einer ungesunden Blässe,
die auf einen langen Aufenthalt im Kerker schließen ließ.
„Wir warfen ihn gefesselt ins Meer, aber augenblicklich gefror es
unter ihm, so dass er auf einem Eisblock im Wasser lag und nicht untergehen
konnte. Wir mussten mit dem Boot hinterher, damit er nicht aus dem Hafen
trieb.“
„Und wenn man ihn anfasst, holt man sich im Handumdrehen Frostbeulen.
Hier, sieh nur“, ergänzte der Silberblickende und zeigte Nidel
seine dick verbundenen Hände.
„Heute haben wir den Befehl, ihn zu hängen“, ergriff
der Fuchsgesichtige wieder das Wort. „Aber jedes Mal, wenn wir ihm
den Strick um den Hals legen, gefriert dieser und wird spröde wie
Glas, so dass er zerbricht, sobald wir den Karren unter dem Kerl wegfahren
und das Seil sich spannt.“
Nidels sog scharf die Luft durch die gebleckten Zähne.
„Das ist stark.“
„Drei Stricke haben wir bis jetzt verloren“, klagte der Blasse
und hielt Nidel einige der Bruchstücke hin. „Und jetzt…“
„Wir werden erklären müssen, wo sie geblieben sind“,
mischte das Fuchsgesicht sich ein. „Man wird denken, wir hätten
sie für uns selbst auf die Seite geschafft. Deshalb sage ich: Wir
schlagen ihm den Kopf ab!“
„Und wenn dabei das Beil zu Schaden kommt, müssen wir auch
das noch erklären“, gab der Blasse zu bedenken.
„Einem Beil schadet Kälte nicht.“
„Außerdem haben wir einen Hinrichtungsbefehl, in dem klipp
und klar steht, dass er gehängt werden soll. Wir sind gar nicht befugt,
die Art der Hinrichtung ohne richterlichen Beschluss zu ändern. Stell
dir vor, ein Advokat bekommt Wind davon. Wir würden unseres Lebens
nicht mehr froh.“
„Dann lasst uns zu Richter Kandire gehen, damit er die Änderung
absegnet.“
„Richter Kandire?“, warf Nidel rasch ein. „Wie ich hörte,
geriet er heute Morgen unter die Räder eines durchgehenden Ochsengespanns.
Sein Rückgrat brach wie ein trockenes Stangenbrot.“
Der Blasse stöhnte gequält auf.
„Jetzt müssen wir auch noch warten, bis ein anderer Richter
den Fall übernimmt. Das kann Wochen dauern.“
„Ach was, schlagen wir ihm den Kopf ab.“
„Nicht mit meinem Beil!“
„Wenn wir ihn doch nur irgendwie loswerden könnten.“
"Vielleicht kann ich euch einen interessanten Vorschlag machen“,
mischte Nidel sich wieder ein. Die drei schauten ihn erwartungsvoll an.
„Ich habe gehört, dass man Verurteilte auslösen kann,
sofern es keine Mörder sind. Nun, zufällig bin ich ein fahrender
Schausteller, der absonderliche Lebensformen ausstellt. Eine Kreatur wie
diese könnte ich in meiner Menagerie gut gebrauchen. Wenn es euch
recht Recht ist, nehme ich sie mit und ihr seid sie los.“
Der Blasse verdrehte die Augen.
„Ein Schausteller? Dann sehen ihn ja noch mehr Leute.“
„Ich würde dafür sorgen, dass er den Rest seines Lebens
in Ketten verbringt und Valauna nie wieder betritt. Meiner Diskretion
könnt ihr ohnehin sicher sein.“
„Hm“, der Fuchsgesichtige rieb sich das Kinn. „Auslösen
heißt, dass man dafür bezahlen muss.“
„Ich tue euch den Gefallen gern und verlange nichts dafür“,
sagte Nidel kühl.
„Es ging mir eher darum, was du zu zahlen bereit bist.
Immerhin müssen wir erklären, warum wir keine Leiche abliefern
können.“
Nidel verzog das Gesicht.
„Ihr solltet meine Gutmütigkeit nicht überschätzen.
Aber schön, ich habe genau sieben Zestrinen bei mir. Zwei davon brauche
ich, um mein Quartier zu bezahlen und zwei, um einen Verschlag für
dieses Geschöpf zimmern zu lassen. Bliebe also eine für jeden
von euch.“
„Abgemacht.“
Nachdem er bezahlt hatte, wartete Nidel noch, bis die Drei sich verzogen
hatten, dann trat er zu der Kreatur auf dem Richtblock, die, angesichts
der Tatsache, dass sie hingerichtet werden sollte, einen erstaunlich gleichmütigen
Eindruck machte. Noch bevor Nidel sie ganz erreicht hatte, spürte
er die widernatürliche Kälte, die von ihr ausging - eine Aura
klirrenden Frostes.
„Du bist ein Abkömmling des Chaos?“
Das Wesen wiegte unschlüssig den Kopf.
„Letztendlich … ja.“
„Gut. Dann hör zu: Ich will einen Vertrag mit dir schließen.
Ich rette dich vor dem Galgen und du wirst mir folgen und mir beistehen,
bis ich die Aufgabe erfüllt habe, die mir aufgetragen ist.“
„Welche Aufgabe?“
„Welche auch immer - entweder du sagst jetzt 'Ja’, oder ich
hole die Henker zurück.“
„Hm, nicht dass ich vor denen Angst hätte … aber gut,
es ist sicher kurzweiliger, dir zu folgen, als hier zu sitzen und drauf
zu warten, dass sie vielleicht doch noch auf die richtige Methode kommen.
Also abgemacht, ich gehe mit.“ Er glitt ungelenk vom Richtblock
und folgte Nidel mit patschenden Schritten.
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